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Berliner Singverbot

Mit dem Begriff „Berliner Singverbot“ (auch Berliner Gesangsverbot) ist ein Absatz aus der SARS-CoV-2-Infektionsschutzverordnung des Berliner Senats in der Fassung vom 23. Juni 2020 gemeint.

Entscheidung des Senats

Am 23. Juni 2020 hat der Berliner Senat in seiner Sitzung die SARS-CoV-2-Infektionsschutzverordnung beschlossen. Diese Verordnung löste die seit Mitte März gültige SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung ab. In einer Pressemitteilung am selben Tag werden die wichtigsten Punkte der neuen Verordnung aufgelistet. Unter „Weitere Hygiene- und Schutzregeln für besondere Bereiche (Auswahl)“ steht als erster Punkt der lapidare Satz: In geschlossenen Räumen darf nicht gemeinsam gesungen werden.

In der Landespressekonferenz mit dem Berliner Senat, ebenfalls am 23. Juni geht der Regierende Bürgermeister, Michael Müller, in einer Antwort auf eine Frage auch auf dieses Singverbot ein, erläutert die Gründe dafür und nennt als Berater, dessen Expertise zu dieser Entscheidung geführt hat, namentlich Prof. Dr. Christian Drosten.

Die Verordnung wird am 26. Juni in Heft Nr. 30 (Seiten 561 - 568) des Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin 2020 veröffentlicht und tritt „am Tag nach der Verkündigung“, also am 27. Juni 2020 in Kraft.

Hier steht nun also zu lesen (siehe auch Abbildung oben auf der Seite):

§ 5
Weitere Hygiene- und Schutzregeln für besondere Bereiche
(1) In geschlossenen Räumen darf nicht gemeinsam gesungen werden.
[…]

Reaktionen

Kai-Uwe Jirka

Kai-Uwe Jirka, u. a. Leiter des Staats- und Domchors Berlin, meldet sich als einer der ersten zu Wort. In einem Interview in der Sendung Tonart auf DLF Kultur am 24.06.2020 findet er deutliche Worte:

Dieser Satz, der in der neuen Verordnung steht, ist eine Unverschämtheit, das ist ein Skandal sondergleichen. Dieser Satz ist pauschal, bequem, er ist faul und er ist vor allen Dingen irrational, weil er die wissenschaftliche Forschung überhaupt nicht berücksichtigt, die Arbeit der Verbände, die gezeigt haben, unter welchen Bedingungen Arbeiten stattfinden kann. Er verhindert, er zerstört Kultur und für mich dass Allerschlimmste in einer Stadt wie Berlin, die die Singakademie zu Berlin als ersten gemischten Chor der Welt überhaupt hat, die mit dem Staats- und Domchor und vielen anderen Chören herausragende Klangensembles hat, dass kein einziges Fenster gezeigt wird, wie es denn geht. Dieser Satz wird sicherlich so nicht stehenbleiben. Die Chorszene wird dagegen aufstehen und wir werden uns natürlich auch juristisch beraten lassen. Es kann einfach nicht sein, dass in anderen Bundesländern wie in Bayern, in Nordrhein-Westfalen, in Thüringen, in Baden-Württemberg, der ganzen Schweiz gesungen wird und Berlin mit einem solchen Satz schweigen soll. Das geht nicht!

Chorverband Berlin e.V.

Der Chorverband Berlin e.V. hat am 24. Juni 2020 einen offenen Brief an die zuständigen Senatsverwaltungen geschickt und drückt darin sein Unverständnis über die Verordnung aus. Darin ist von „Auslöschen von Kulturgut“ und „Berufsverbot für Chorleiter*innen und Sänger*innen“ die Rede. Außerdem wird folgender Vorschlag unterbreitet:

Eine kleine Expertenrunde zwischen den beteiligten Senatsverwaltungen, Vertreter*innen der Charité, des Chorverbands Berlin, des Landesmusikrats und Vertreter*innen der Kirche soll die Perspektive des Chorsingens in Berlin mit Lockerungen vorbereiten. Wir brauchen eine schrittweise Weiterentwick-lung, damit ein Chorsterben verhindert wird.

In einem Antwortschreiben vom 25. Juni des Kultursenators Dr. Klaus Lederer zeigt sich dieser überrascht von der Schärfe der Kritik. Außerdem zählt er eine Liste von sieben Wissenschaftlern auf, deren Expertise in die Erwägungen zum Chorgesang mit eingeflossen sein soll. Als Gründe führt er u. a. Clusterereignisse der zurückliegenden Wochen an, bei denen „immer auch wieder größere Gemeinschaftsereignisse in geschlossenen Räumen eine Rolle spielten (Chorgesang, Gottesdienste mit Gemeindegesang etc.).“ Den Vorwurf „Auslöschung von Kulturgut“ bezeichnet er seinerseits als „Verbalradikalismus“. Er stellt außerdem ein Treffen mit dem Landesmusikrat, dem Chorverband Berlin und dem Musikschulbeirat mit Expert*innen im August in Aussicht.

Der Chorverband antwortet gemeinsam mit dem Landesmusikrat Berlin am 29. Juni auf das Schreiben des Senators Lederer und drückt noch einmal sein Unverständnis darüber aus, dass es, obwohl das vom Chorverband vorgelegte Positionspapier mit Prof. Dr. Mürbe und Prof. Dr. Gastmeier beraten worden und in Lederers Senatsverwaltung mit einer positiven Einschätzung aufgenommen worden sei, zu einer solchen Verordnung durch den Senat kommen konnte. Außerdem wird noch einmal auf ein zeitnahes Treffen mit Vertretungen der beteiligten Senatsverwaltungen, Vertreter*innen der Wissenschaft, des Chorverbands Berlin, des Landesmusikrats und Vertreter*innen den Kirchen gedrängt.

Rundfunkchöre

Die beiden Berliner Rundfunkchöre, der Rundfunkchor Berlin und der RIAS Kammerchor haben sich am Montag nach Inkrafttreten der Verordnung zu einem erzwungenermaßen letzten Dienst in der Spielzeit im Großen Sendesaal im Haus des Rundfunks an der Masurenallee versammelt und ein Video produziert, in dem sie gemeinsam ihren stummen Protest gegen die Verordnung zum Ausdruck bringen.

Das eindrucksvolle Video mit dem Titel „Zum Schweigen gezwungen“ erschien am 2. Juli 2020 jeweils auf den YouTube-Kanälen der beiden Chöre:

Deutsche Orchestervereinigung e. V. (DOV)

Gerald Mertens, Geschäftsführer der Musikergewerkschaft DOV, in der auch die Sänger*innen der deutschen Rundfunkchöre organisiert sind, schreibt am 26. Juni 2020 auf den von ihm betriebenen Blog OrchesterlanD:

[…] Da diese Faktoren in der Verordnung völlig ausgeblendet werden, ist ein pauschales Gesangsverbot unzulässig und unverhältnismäßig, u.a. da damit massiv in die Kunstfreiheit und die Berufsfreiheit (Art. 5 und 12 GG) eingegriffen wird. Hoffentlich setzen sich unmittelbar Betroffene hiergegen umgehend rechtlich zur Wehr.

Deutscher Musikrat

Auch Prof. Christian Höppner, Generalsekretär des Deutschen Musikrat e. V. kritisiert am 29. Juni 2020:

Die Entscheidung des Berliner Senats, gemeinsames Singen in geschlossenen Räumen zu verbieten, ist nicht nur unverhältnismäßig, sondern offenbart ein erschreckendes Kulturverständnis. Der Deutsche Musikrat fordert den Berliner Senat auf, diese Entscheidung zu revidieren. Singen ist elementar für die Kulturnation Deutschland und unter Wahrung der Hygienevorschriften sehr wohl in geschlossenen Räumen möglich. Vom Singen ‚befreite‘ Kindertagesstätten, Schulen, Musikschulen und Konzerthäuser würden das Ende gestaltender Kulturpolitik bedeuten und wären die furchtbare Vision einer verstummten Nation. […]

(vgl. rbb Inforadio 29.06.2020)

Evangelische Landeskirche (EKBO)

Auch der Landeskirchenmusikdirektor der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO), Gunter Kennel, meldet sich am 6. Juli 2020 in einem Interview mit dem Tagesspiegel zu Wort und bringt die Absurdität der Verordnung auf den Punkt:

Genau genommen darf man ja nicht einmal in der eigenen Wohnung für ein Familienmitglied „Happy Birthday“ anstimmen. Oder man riskiert ein Bußgeld in Höhe von bis zu 25.000 Euro.

Wissenschaftler

Freiburger Institut für Musikermedizin (FIM)

Die Wissenschaftler des Freiburger Instituts für Musikermedizin (FIM) zweifeln im dritten Update vom 1. Juli 2020 ihrer Risikoeinschätzung die Evidenzbasierung der Entscheidung des Senats an:

Auch die in den einzelnen Bundesländern sehr uneinheitlichen Verordnungen, vor allem den Gesang betreffend – und hier insbesondere den Chorgesang –, werfen ganz neue Fragen auf. Während das Land Berlin in seiner aktuellen Corona-Verordnung (SARS-CoV-2-Infektionsschutzverordnung vom 23.06.2020), sängerische Aktivitäten von mehr als einer Person in geschlossenen Räumen komplett untersagt, hat das Land Rheinland-Pfalz nahezu zeitgleich seit dem 24.06.2020 das Chorsingen in geschlossenen Räumen unter Einhaltung strenger Hygieneregeln gestattet (10. CoBeLVO). Auch die uneinheitliche Betrachtung von sportlichen und musikalischen Aktivitäten, die sich in den Verordnungen der Länder national und international abzeichnet, gibt Anlass, die Evidenzbasierung dieser Entscheidungen zu hinterfragen.

Prof. Dr. Matthias Echternach

Prof. Dr. Matthias Echternach (LMU Klinikum München) sagte am 3. Juli 2020 in einem Interview des NDR:

[…] und auch ich habe Probleme zu glauben, dass die Maßnahmen in Berlin tatsächlich verhältnismäßig sind. Ich glaube, diese Vokabel von Ihnen, Herr Stäbler, ist sehr richtig hier angebracht1). Ich glaube tatsächlich, dass wir guten Gewissens bald wieder singen können. Ich glaube gleichwohl, dass wir vielleicht mehr auf Abstände, Durchlüftung, vielleicht Singen mit Schutzmaßnahmen zurückgreifen müssen, das wird vielleicht die nächste Wahrheit werden.

Prof. Dr. Dirk Mürbe (Charité Berlin)

Prof. Dr. Dirk Mürbe, Direktor der Klinik für Audiologie und Phoniatrie der Charité Berlin zeigt am 10. Juli in einem Interview mit DLF Kultur aufgrund Erkenntnissen einer u. a. von ihm durchgeführten Studie Wege aus dem Dilemma auf:

Jetzt ist die Möglichkeit nach den Untersuchungen, die in den vergangenen Wochen stattgefunden haben, dass man eigentlich sich von einem Pauschalverbot lösen kann und individuell für die jeweilige Situation die Chorprobe oder die Aufführung beurteilen kann. Das ist aufwändig für die Entscheidungsträger, die das beurteilen müssen, aber das ist letztendlich der Weg, um Singen zu ermöglichen, die individuelle Situation zu prüfen […]

Medienberichte

Eine Liste aller hier im Wiki erfassten Medienberichte zum Thema „Berliner Singverbot“:

1)
Marcus Stäbler, der das Interview führte, hatte in seiner Frage das Verbot als „total unverhältnismäßig“ bezeichnet.